Die Mär vom Verbot der Heilpflanzen
Cistrosen, ein neues Bauernopfer?
Kritiker des Internets und der neuen Medien monieren, dass es nichts Besseres gäbe, um Unsinn, Lügen und Falschmeldungen zu verbreiten. Am vergangenen Wochenende schien sich genau diese Befürchtung zu bestätigen. In einem Beitrag auf seiner Website beklagte der Deutschlandfunk das Verbot zahlreicher traditioneller Heilpflanzen.1 Nein, das ist kein Aprilscherz! Das Veröffentlichungsdatum lag rund drei Wochen später. Es war der 20. April 2024.
Mehr als 20 Arten gehören zur Gattung der Zistrosen. Als Heilpflanze ist bisher keine von ihnen offiziell anerkannt.
In der Diskussion um die schwierigen Bedingungen für die Zulassung und Vermarktung von Heilkräutern und -pflanzen wird die Zistrose in ihren zahlreichen Varianten allzu gern exemplarisch erwähnt. Das Kraut und die Blüten der graubehaarten Zistrose (Cistus x incanus) sind in Apotheken bspw. für die Teezubereitung frei erhältlich. Nur dort dürfen sie verkauft werden, und alle anderen 23 Zistrosen-Arten nicht. Das klingt zunächst nach einem Verbot, ist es aber nicht.
Ein Maulkorb für Teehändler?
Im Jahre 2006 verabschiedete die Europäische Kommission eine Verordnung, die regelt, welche Angaben seitens Hersteller und Händler zu Lebensmitteln gemacht werden dürfen und welche nicht. Es handelt sich um die viel zitierte Health-Claim- Verordnung2. Zum Schutze der Verbraucher dürfen Produzenten und Vermarkter nur mit zulässigen bzw. wissenschaftlich überprüften Angaben für ihre Produkte werben. Besagte Verordnung gilt unter anderem auch für Kräutertees und Nahrungsergänzungsmittel. Gesundheitsbezogene Angaben sind demnach nur in Ausnahmefällen möglich. Diese sind im Detail in eben dieser Verordnung klar geregelt. Darüber hinausgehende Angaben müssen wissenschaftlich abgesichert sein. Das hilft dem Konsumenten und schärft den Wettbewerb. Zu diesem Zeitpunkt hatte noch niemand die Zistrose, mit ihren anitviral wirkenden Inhaltsstoffen, und Zubereitungen aus ihren Pflanzenbestandteilen im Blick. Daher findet sich nichts auf sie Anwendbares in der sogenannten Artikel-13-Liste.3 Dementsprechend ist es nicht statthaft, Zistrosenblätter oder -blüten als Erkältungsmittel anzupreisen.
Wohlgemerkt, diese Einschränkungen gelten nur für die Vermarktung. Wer über Heilpflanzen berichtet, schreibt und vorträgt, darf frei über die Vorzüge der im Mittelmeerraum beheimaten Pflanze referieren. Wer mag, kann ohne Konsequenzen den Zistrosen alle möglichen Heilwirkungen andichten wie eben auch dem Giersch.
Heilpflanze oder pflanzliches Arzneimittel?
Was ein Heilkraut oder eine Heilpflanze ist, und was nicht, diese Entscheidung liegt seit 2004 bei einem internationalen Expertengremium (HMPC) der europäischen Gesundheitsagentur EMA.4 Alle Arzneimittel, auch die pflanzlichen, benötigen eine Zulassung, bevor sie innerhalb der EU verkauft werden dürfen. Nach eingehender Prüfung der Daten- und Studienlage, die für oder gegen eine Zulassung eines pflanzlichen Arzneimittels sprechen, unterscheidet das ‚Committee on Herbal Medicinal Products‘ (HMPC) im Falle einer Zulassung zwischen „well- established use“ und „traditional use“. Eine Heilpflanze hat grosse Chancen als traditionelles pflanzliches Arzneimittels (traditional use) anerkannt zu werden, wenn sich hinreichend belegen lässt, dass sie seit mehr als 30 Jahren, davon mindestens 15 Jahre in der Europäischen Union, bereits als Heilmittel verwendet wird. Entscheidend für eine Zulassung ist, dass die Wirksamkeit plausibel und die Erfahrungen in der Anwendung hinreichend belegt sind.5 Die Zulassung eines pflanzlichen Arzneimittels erfolgt mit der Veröffentlichung einer Monografie seitens der EMA/HMPC. Alle Monografien sind öffentlich und frei zugänglich. Sie enthalten Informationen zu Darreichungsformen, zu den Anwendungsgebieten, Dosierungen und Gegenanzeigen u.v.m..6 Diese Informationen z.B. zu Indikationen dürfen dann unter anderem zur Vermarktung der jeweiligen Heilkräuter und Heilpflanzen genutzt werden.
Cistus x incanus – sie ist eine hoffnungsvolle Kandidatin.
Laut dem veröffentlichtem Arbeitsplan der Expertenkommission (HMPC/EMA) stehen für das laufende Jahr 2024 drei Monografien zur Veröffentlichung an. In der Diskussion befinden sich zwei Heilpflanzen und eine Kombination aus zwei pflanzlichen Arzneidrogen.7 Experten halten es nicht für unwahrscheinlich, dass das Kraut der kretischen Zistrose (Cisti cretici folium) noch in diesem Jahr seine Anerkennung als traditionelles pflanzliches Arzneimittel erfahren könnte. Es ist eines der beiden Kandidaten.
Apothekenqualität für Heilpflanzen und -kräuter?
Arzneimittel dürfen nur über Apotheken vertrieben werden. So sieht es der Gesetzgeber vor (Arzneimittelgesetz – AMG)8. Hersteller benötigen eine Zulassung. Arzneimittel müssen über bestimmte Eigenschaften verfügen, wie bspw. Qualität, Abwesenheit von Fremdstoffen, das Vorhandensein von Wirkstoffen in definierten Konzentrationen. Das gilt auch für pflanzliche Arzneimittel! Diese zum Teil aufwändigen Verfahren können nur Apotheken leisten, bzw. haben diese bereits durch die Hersteller in ihren Lieferketten abgesichert und damit garantiert. Diese Garantien seitens der Hersteller ermöglichen auch den Verkauf frei verkäuflicher Arzneimittel, wie Arzneitees und andere pflanzliche Mittel in Drogerie- und Verbrauchermärkten sowie in Reformhäusern (§ 44 AMG), die nicht über die vergleichbare Prüfmöglichkeiten wie Apotheken verfügen.9
Im Übermut zur Lücke?
Innovationen erfordern Einfallsreichtum. Das ist eines der Grundprinzipien von Start-ups und allen anderen findigen UnternehmerInnen. Nicht selten werden bei Produktinnovationen die Grenzen des Machbaren ausgelotet und manchmal auch überschritten. Hauptsache, es findet sich einer, der es kauft; in der Hoffnung, es werden viele. Prima, wenn der Gesetzgeber und die zuständigen Ordnungsbehörden nicht so genau hinschauen. Erlebten wir vor zehn Jahren noch eine regelrechte Hysterie der Behörden bei der Ahndung unzulässiger Werbeaussagen bei pflanzlichen Heilmitteln, so scheint mittlerweile eine gewisse Schläfrigkeit Einzug gehalten zu haben. Im Bereich Nahrungsergänzungsmittel tummeln sich eine Vielzahl von Produkten und Produktversprechen am Markt, welche an der Grenze zwischen Arzneimittelgesetz und Lebensmittelgesetz kratzen oder diese ganz einfach ignorieren.
Abkürzung oder Umweg?
Der kleine Unterschied zwischen Nahrungsergänzungsmitteln und Arzneimitteln ist: Arzneimittel müssen Wirkstoffkonzentrationen besitzen, die einen Heilungsprozess bewirken können. Allerdings dürfen Nahrungsergänzungsmittel keine wirksame Bestandteile von Wirkstoffen besitzen, was letztendlich ausschliesst, dass Heilpflanzen als Nahrungsergänzungsmittel vermarktet werden können. Nahrungsergänzungsmittel dienen lediglich der Ergänzung der allgemeinen Ernährung. Verallgemeinernd könnte man sagen: es handelt sich um harmlose Pülverchen. Dementsprechend dürfen sie nicht als Arzneimittel angepriesen und verkauft werden oder im Erscheinungsbild ihnen ähneln. Zudem sind in der Produktauszeichnung und in den Bewerbung des Produktes keinerlei Aussagen zulässig, die sich auf die Beseitigung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten beziehen.10
Die Nahrungsergänzungsmittel unterliegen dem Lebensmittelrecht. Bevor Nahrungsergänzungsmittel auf den Markt gebracht werden können, müssen sie beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) angezeigt werden. Die Bewertung, Prüfung und gegebenenfalls auch die Zulassung liegen dann bei den für die Lebensmittelüberwachung zuständigen Behörden der Länder. Die meisten Produkte wurden allerdings in der jüngsten Vergangenheit wegen unzulässiger gesundheits- oder krankheitsbezogene Angaben abgelehnt. Oder es handelte sich um nicht zugelassene neuwertige Lebensmittel.11
Alter Wein in neuen Schläuchen?
Neuartige Lebensmittel sind solche, die vor dem 15. Mai 1997 nicht in nennenswertem Umfang in der Europäischen Union (EU) verzehrt wurden, worunter auch die Pflanzenbestandteile aller Cistrosenarten fallen. Allerdings waren bereits vor dem Stichtag im Jahre 1997 Pflanzenbestandteile der Zistrosenart mit der lateinischen Bezeichnung Cistus x incanus L. als Nahrungsergänzungmittel im Gebrauch. Daher dürfen sie weiterhin lediglich als Nahrungsergänzungsmittel vertrieben werden. Alle anderen Verwendungen von Cistus x incanus insbesondere als Lebensmittel ausser als oder in Nahrungsergänzungsmitteln sind laut der Verordnung nicht möglich. Daher bedarf es möglicherweise einer eigenen Zulassung für die Blüten und Blätter der Zistrose als neuartiges Lebensmittel, gemäss den Anforderungen der Novel-Food-Verordnung (EU) 2015/2283.12 Wem das zu kompliziert ist, geht in die Apotheke und kauft sich seinen Zistrosen-Tee dort.
Als Mitbringsel aus dem Urlaub ist Zistrosentee leichter als griechischer Wein.
Wer allerdings sich seinen Zistrosentee aus dem Urlaub in Griechenland mitbringt, oder Kräuter der schönen Pflanzen im Gepäck hat, braucht bei Einreise nichts befürchten, solange diese für den Eigengebrauch bestimmt sind. Allerdings sollten die Kräuter dann nicht aus Wildbeständen stammen. Diese gilt es ja unabhängig von allen gesetzlichen Regularien zu schonen.
Phlegma oder Parese?
Im ursprünglichen Sinne sollte die Novel-Food Verordnung die Verbraucher vor potenziellen gesundheitlichen Risiken schützen, die beim Konsum neuartiger oder gar veränderter Lebensmitteln drohen könnten.13 Darunter zählen neben chemisch und molekular veränderten Lebensmitteln, Zusatzstoffe, Mineralien, Spurenelemente eben auch Pflanzen und pflanzliche Bestandteile. Bei der Schaffung der Verordnung wurde vereinbart, den Zulassungs-Katalog ständig durch kontinuierliche Prüfungen seitens der zuständigen EU- Kommission zu erweitern. Es herrscht ein Zulassungs-Stau. Mittlerweile beklagt selbst der Bundesverband der pharmazeutischen Industrie (BPI e.v.) lautstark in einem Positionspapier, dass die zuständige EU-Kommission ihren Verpflichtungen nicht nachkomme und die Bewertungen neuer Lebensmittel und Nahrungsmittel seit Inkrafttreten der Verordnung im Jahre 2010 aussetzt.14 Das sind mittlerweile immerhin 14 Jahre Stillstand! Die Frustration der Hersteller ist verständlich, und letztendlich trifft es in der Konsequenz die Konsumenten, die ja eigentlich durch die Verordnung geschützt werden sollten. Der Zugang zu möglicherweise neuen, alternativen, besseren Lebensmitteln, Zutaten, Inhaltsstoffen und Kräutern wird ihnen verwehrt. Dabei sollten wir nicht vergessen, Produktinnovationen sind Motoren aller wirtschaftlichen Entwicklungen. Darauf sind nicht nur aufstrebende UnternehmerInnen angewiesen, sondern auch alle etablierten Unternehmen unterliegen natürlichen Produktzyklen, denen sie Rechnung für ihren wirtschaftlichen Erfolg tragen müssen. Genützt hat das Ausbremsen der Neubewertungen weder den Verbrauchern, noch dem Wettbewerb oder einzelnen Unternehmen. Vielmehr haben diese Verschleppungen lediglich einen grauen Markt ermöglicht, den es mit eben diesen Verordnungen zu verhindern galt.
Trägheit der Masse?
Fakt ist: vom Verbot von Heilkräutern seitens der EU kann nicht die Rede sein! Eher handelt es sich um eine fatale Dreierkombination aus schleppender wissenschaftlicher Forschung, mangelhaften Arbeitsvolumens der EU-Behörden und Journalisten, die ihrem verfassungsrechtlichem Auftrag nicht nachkommen.
Am Beispiel der Zistrosen zeigen sich die Auswirkungen ungenügender Aufgabenbewältigungen bei den verantwortlichen EU-Behörden. Allerdings sehen wir auch wenig Neues in der wissenschaftlichen Forschungstätigkeit im Bereich Phytotherapien. Vielmehr ist ein Trend der Fokussierung auf Metastudien, die bereits vorhandene Forschungsergebnisse durchleuchten, zu beobachten. Sichtbar wird die geringe Dynamik bei der Erforschung von Heilpflanzen und insbesondere bei klinischen Studien in den Suchergebnisse der wissenschaftlichen Datenbanken wie PubMed oder MDPI. Im Bezug auf die Zistrosen mit ihren antiviralen Eigenschaften ist die Anzahl der Veröffentlichungen innerhalb der letzten fünf Jahre sehr überschaubar und enthält bedauerlicherweise wenig Neues.15 Diese wissenschaftliche Arbeiten sind allerdings die Grundlage für den Zulassungen und Anerkennungen neuer Heilmittel und -methoden.
Ein beliebtes Spiel von Rechtsaussen, Querdenker und anderen Schwurbler ist der immer wiederkehrende Vorwurf an die Öffentlich-Rechtlichen sie verbreiten Fake-News und betreiben Desinformation. Kurioserweise scheint es nun aber so, als ob der Deutschlandfunk eben diesen Kräften auf den Leim gegangen ist. Eine Stellungnahme auf unsere Anfrage liegt bis heute nicht vor.
Quellen:
- https://www.deutschlandfunk.de/heilpflanzen-heilkraeuter-medizin-wirkung-100.html; 21.04.2024 ↩︎
- https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2006:404:0009:0025:DE:PDF; 21.04.2024 ↩︎
- https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:32012R0432&qid=1403863040750&from=DE; 21.04.2024 ↩︎
- https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2004:136:0085:0090:en:PDF; 21.05.12019 ↩︎
- https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/MEMO_11_71; 21.04.2024 ↩︎
- https://www.ema.europa.eu/en/documents/regulatory-procedural-guideline/hmpc-rules- procedure_en.pdf; 18.05.2022 ↩︎
- https://www.ema.europa.eu/en/documents/other/committee-herbal-medicinal-products-hmpc- work-plan-2024_en.pdf; 03.02.2024 ↩︎
- Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz – AMG); 21.04.2024 ↩︎
- https://www.bpb.de/themen/gesundheit/gesundheitspolitik/253136/vom-hersteller-zu-den- verbraucherinnen-und-verbrauchern-zulassung-herstellung-und-vertrieb-von-arzneimitteln/; 24.04.2024 ↩︎
- https://www.bvl.bund.de/DE/Arbeitsbereiche/01_Lebensmittel/03_Verbraucher/04_NEM/01_NEMArzneimittel/NEM_Arzneimittel_node.html; 21.04.2024 ↩︎
- https://www.laves.niedersachsen.de/startseite/lebensmittel/lebensmittelgruppen/nahrungserganzungsmittel/immer-mehr-nahrugserganzungsmittel-enthalten- pflanzenextrakte-224946.html; 22.04.2024 ↩︎
- https://ec.europa.eu/food/food-feed-portal/screen/novel-food-catalogue/search, 23.04.2024 ↩︎
- https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/? uri=uriserv:OJ.L_.2015.327.01.0001.01.DEU&toc=OJ:L:2015:327:TOC; 23.04.2024 ↩︎
- https://www.bpi.de/alle-themen/ansicht-themen-nachrichten/eu-health-claims-bericht-klares- signal-fuer-den-verbraucherschutz; 23.04.2024 ↩︎
- https://www.mdpi.com/search?advanced=(@(all)cistus@(all)phytotherapy); 22.04.2024 ↩︎