Ursprung und Behandlung der Krankheiten – Causa et Curae
Band II der Werksausgabe Hildegard von Bingen
Die Neuübersetzung von Ortrun Riha aus dem Lateinischen – eine Kurzbesprechung
Die Medizinhistorikerin Ortrun Riha hat es ihren Lesern mit der Neuübersetzung des zweiten Heilkundebuches der Hildegard von Bingen wieder einmal einfach gemacht. Den historischen Text hat sie nicht nur sprachlich neu umgesetzt, Quellen abgeglichen, Abweichungen aufgezeigt. Ihre Gliederung des Textes gibt dem Leser Orientierung. Das trägt maßgeblich zum Verständnis des relativ schwierigen und komplexen Textes bei. Viele Stellen erfordern Nachlesen und Vergleichen mit früheren und nachfolgenden Passagen, um den Sinn und den Zusammenhang nachvollziehen zu können. Das liegt nicht an der vorzüglichen Übersetzungsarbeit. Vielmehr ist das dem Originaltext geschuldet. Zu einem hatte man vor rund 900 Jahren ein etwas anderes Gliederungsverständnis für Fachbücher. Zum anderen hatte Hildegard von Bingen das Buch nicht für die breite Masse geschrieben, sondern sie wandte sich mit ihren Schriften an das Fachpublikum der damaligen Zeit. Wie Ortrun Riha in einem vortrefflich erläuternden und erklärenden Vorwort schildert, hatte Hildegard von Bingen ihren ganz persönlichen Diktierstil, den die Schreiber des Buches wohl gemäß ihrer Auftraggeberin umsetzten.
Dem Leser sei geraten, sich durch das ganze Buch von vorne nach hinten durch zu arbeiten. Vielen scheint der zweite hintere Teil mit den Rezepten und Prognosen der interessanteste. Ein solches Vorgehen würde aber die Heilkunst der Hildegard konterkarieren. Ihr Ansatz des Heilens basierte auf Ganzheitlichkeit. Beim Auslassen unterläuft der Leser der Gefahr, heitere bis zuweilen komische Stellen zu überblättern. Erstaunen und Erheiterung lösen beispielsweise ihre Beschreibungen der männlichen Sexualität und der Physiologie der Geschlechtsorgane aus. Die detaillierten und kenntnisreichen Schilderungen einer Nonne und späteren Äbtissin des Benediktinerinnenordens sind delikat genug, um Verwunderung auszulösen und Fragen aufzuwerfen.
Das Buch eröffnet zudem einen Zugang zur Humorallehre, der Lehre über die körperfunktionssteuernden Säfte. Hildegard hatte auch hierbei das bekannte Modell adaptiert und mit eigenen Erklärungsansätzen ergänzt. Für den Leser ist das eine klare Dokumentation über das vollkommen unterentwickelte Wissen im Mittelalter zu Fragen der Physiologie und Anatomie. Da drängen sich Fragen nach dem Warum und Wieso auf? Wenn Menschen seit Jahrtausenden sich gegenseitig massakrierten, töteten, bei Kampf und Folter Körperteile abtrennten und aufschlitzten – ihre Körper wurden auf jede erdenkliche Art und Weise malträtiert – und dennoch die Kenntnisse über den innere Aufbau und die Organfunktionen noch Jahrhunderte verborgen blieben.
Abweichend von den seit der Antike vier definierten menschlichen Temperamenten beschreibt Hildegard 14 Charaktertypologien und verbindet diese mit aus deren Verhalten resultierenden wahrscheinlichen gesundheitlichen Risiken. Hier setzt sie einen historischen Vorgriff auf die Psychosomatik, und beschreibt wie aus ihrer Sicht menschliches Denken das Verhalten beeinflusst. Einen ausgeglichenen Gemütszustand sieht sie vordergründig für ein gelingendes Leben und für den Erhalt der Gesundheit. Damit verbindet sie unmittelbar, das in unseren Tagen hochaktuelle Thema, einer gesunden Ernährung, ausreichendem Schlaf und körperlicher Betätigung, wobei sie damit ganz konkret Arbeit meint – einer gesunden Lebensweise.
Wie alles, was die Heilige aus Bingen bewerkstelligte, so ist auch dieses Buch Ausdruck ihrer tief verwurzelten Spiritualität. So setzt sie stets ihre Beschreibungen in den Bezug zur Heiligen Schrift. Wer ihre anderen Bücher kennt, wird immer wieder Rückschlüsse, Gedankenschleifen und Parallelen erkennen.
Gedankt sei an dieser Stelle den Benediktinerinnen der Abtei St. Hildegard in Eibingen für ihr Engagement bei der Herausgabe dieser wertvollen Übersetzungsarbeit.
Das Buch ist erhältlich im Beuroner Kunstverlag: