Heilpflanze des Jahres 2021: Meerrettich – Armoracia rusticana
Wenn Hildegard von Bingen den Meerrettich für eine ihrer Rezepturen empfahl, meinte sie jedoch das grüne Blattwerk und nicht die Wurzeln. Wenn sie damals doch geahnt hätte, welches Potenzial tatsächlich in den dicken Stammwurzeln steckt.
Achtung!
Scharfe Wurzeln
Die scharfe Wurzel der vielen Möglichkeiten
Die Zauberstoffe des Meerrettichs heissen Isothiocyanate oder auch Senföle. Sie bilden sich bei Verletzungen der Gewebestruktur von Meerrettichwurzeln (Armoraciae rusticanae radix) und erzeugen den beissend scharfen Geschmack. Das ist der Grund, weshalb der Meerrettich beim Reiben und Raspeln, uns die Tränen aus den Augen rinnen, oder die Nase laufen lässt. Normalerweise wehren Senföle die Frassfeinde der Pflanze ab. Pharmakologisch hätten die Isothiocyanate beinahe Karriere als Thyreostatika (hemmen die Synthese bzw. die Abgabe von Schilddrüsenhormonen) gemacht. Wegen ihrer Toxizität und geringer therapeutischer Breite haben aber andere Stoffe den Vorrang.[1] Dennoch interessiert sich zunehmend die medizinische Forschung aus ganz anderen dringenden Gründen für ihn.
Über alle Generationen hinweg – ein bewährter Scharfmacher
Vermutet wurde schon immer, dass der Meerrettich zu mehr taugt als zum Würzen von deftigem Braten, Pasteten und Würsten. Herzhafte fettige Speisen werden einfach besser verdaulich, wenn Meerrettich, oder auch Kren genannt, im Spiel ist. Die Wirkung der Senföle wird als cholekinetisch beschrieben. Sie fördern sozusagen die Ausscheidung des Gallensekrets in den Darm und zusätzlich auch noch die Magensaftsekretion.[2]
Bei schmerzenden Muskeln wird gerne zu durchblutungsfördernden Mitteln gegriffen. Die Senföle des Meerrettichs können das auch. Ein durchaus probates Hausmittel sind Kompressen aus frischem geriebenem Meerrettich.[3] Frisch muss er sein. Die praktischen kleinen abgepackten Gläser mit Sahnemeerrettich sind hierfür leider ungeeignet.
Ohne Bauern wird nichts scharf!
Auf allen Vieren im Frühjahr über den Acker kriechen. „Das ist kein Vergnügen sondern notwendige Arbeit, damit sich die begehrten dicken Stangen bilden können.“ So schildert es der Landwirt R. Oben aus den Vierlanden, einer der letzten einheimischen Meerrettich-Produzenten.
Es ist viel Handarbeit. Die jungen Triebe werden händisch in die Erde gelegt. Später wird jede Pflanze einzeln mit der Hand vorsichtig angehoben. Die oberen Nebenwurzeln trennen sich von der Hauptwurzel. Wenn alles gut läuft, schiesst die Kraft in die zukünftig kräftige Stange. Dazu braucht es einen nähstoffreichen Boden und Feuchtigkeit. Das Kopfkraut muss zwischendurch auch entfernt werden, denn alle Energie soll in die Wurzel. Spätestens nach vier Jahren braucht der Meerrettich einen Feldwechsel. Alles will bedacht sein!
Die Schärfe des Meerrettichs wird als wohltuend empfunden, weil sie nicht nur auf der Zunge brennt und in der Nase beisst. Sie heizt auch ordentlich ein. Manchmal treibt die Schärfe Schweissperlen auf die Stirn und hinterlässt ein leichtes Kribbeln auf der Haut. Die Senföle und somit die Isothiocyanate werden relativ leicht im Verdauungstrakt resorbiert und gelangen so in die Nieren und in die Lunge, wo sie über den Harn oder die Atemluft ausgeschieden werden. Das erklärt, weshalb sie auch bevorzugt in diesen Organen wirksam sind. Als Hausmittel bei Katarrhen der Atemwege, Husten, Schnupfen und bei Harnwegsinfektionen galt die Meerrettichwurzel lange Zeit als Geheimwaffe bis die Forschung einem interessantem Muster auf die Spur kam.
Vom Hausmittel zum klinisch relevanten Medikament
Etwas zurückhaltender tastet sich die Schulmedizin an die Alternativen der Phytotherapie und so auch an die Wurzeln des Meerrettichs heran. Die Brücke, über die sie geht, heisst Adjuvanz. So werden Hilfsstoffe genannt, welche die Wirkung einer Arznei oder einer Therapie verstärken sollen. Bereits in der AWMF-Leitlinie für die Urologen findet sich eine vorsichtige Empfehlung. Für eine unterstützenden Behandlung von Harnwegsinfektionen sind einige pflanzliche Harnwegsdesinfizientien wie u.a. die Meerrettichwurzel zugelassen.“[4] Hier findet sich ein deutlicher Hinweis, wo die Wirkung der Senföle des Meerrettichs eigentlich ansetzt.
Tränenreich und schweisstreibend
Kein leichtes Geschäft
Damit der Meerrettich die richtige Schärfe entwickelt sind viele Schritte notwendig. Der Anbau und die Ernte vom Meerrettich ist ein langer und aufwendiger Prozess. Immer weniger Landwirte bauen den Meerrettich in Deutschland an. Das meiste ist Importware.
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Lange suchten Forscher in der Pflanzenwelt nach Äquivalenten für bewährte Antibiotika, welche die Membranfunktion von Bakterien stören. Sie zielten auf den Verlust der Membranintegrität und Zellstörungen, die den Zelltod der Bakterien auslösen.
Ohne wissenschaftlichen Nachweis geht dass nicht
Die Hoffnungen erfüllten sich leider nicht.[5] Senföle hingegen zerstören den Lebensraum bestimmter Bakterien (Pseudomonas aeruginosa, Escherichia coli) – den sogenannten Biofilm. Bakterien im Darm und in den Harnwegen bilden Biofilme, die an Gewebsoberflächen haften. In Studien wurde beobachtet, dass Isothiocyanate die Bildung von Biofilmen signifikant hemmten. Damit entzogen sie den Bakterien ihre Lebensgrundlage.[6] Senföle (Isothiocyanate) könnten vielversprechende Behandlungsalternativen darstellen beispielsweise für Harnwegsinfektionen.[7] Das Charmante an diesem neuen Ansatz wäre eine Zerstörung von Bakterienkulturen ohne Resistenzbildungen fürchten zu müssen. Die Hoffnung ist nicht nur ein effektives Mittel gegen multiresistente Keime zu haben, sondern auch damit deren Ausbreitung zu verringern.[8] Mit diesen bedeutenden Erkenntnissen ist der Meerrettich in den Fokus der medizinischen Forschung gerückt. Neuere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass in der Meerrettichwurzel weitere entzündungshemmende Inhaltsstoffe enthalten sind, welche eine direkte Wirkung auf die menschlichen Immunzellen haben.[9] In einem Punkt waren sich die Studien einig: die unerwünschten Nebenwirkungen waren geringer als bei den verglichenen Substanzen.
Schwere Handarbeit für die kostbaren Stangen.
Bei novemberlicher Kälte und Nässe am Ende des Jahres lassen sich die Wurzeln dann endlich ausgegraben. Üppige Wurzelballen wollen von Erde und Sand befreit werden. Noch ähneln die frisch ausgegrabenen Stangen nicht annähernd den sauberen Produkten aus den Gemüsekisten im Handel.
Meist landen sie erst einmal unter einer Plane im kühlen Dunklen. Die folgenden Arbeitsschritte sind aufwändig. Einem nach dem anderen wird der Kopf mit den Blatttrieben abgeschnitten. Viel Sorgfalt und Geschick erfordern das Trennen der verzweigten Nebenwurzeln von der Hauptwurzel. Bei ordentlicher Behandlung sind sie der Nachwuchs, der im nächsten Jahr zur Meerrettich-Stange wird.
Der Meerrettich ist die Heilpflanze des Jahres 2021
Fast klagend klingt Konrad Jungnickels Laudatio auf die Heilpflanze des Jahres 2021: „Meerrettich hat als Heilpflanze ein großes und leider bisher zu wenig ausgeschöpftes Potenzial“.[10] Seit 2003 lobt ein Expertengremium des Vereins zur Förderung der naturgemäßen Heilweise nach Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus e.V., die Heilpflanze des Jahres aus. Volle Aufmerksamkeit ist sich der Meerrettich für 2021 gewiss. Einen fast versöhnlichen Ratschlag hat Herr Jungnickel als Vorsitzender des Vereins parat: „Meerrettich sollte – zumindest in der kalten Jahreszeit – Bestandteil des täglichen Speiseplans sein.“
Na, dann: Guten Appetit!
Quellen:
[1] Hänsel, R., Sticher, O., Pharmakognosie – Phytopharmazie, 9. Auflage, Springer Medizin Verlag, Heidelberg; 2010
[2] https://www.pschyrembel.de/Glucosinolate/H06G8
[3] Wiesenauer, M., PhytoPraxis, 4. Auflage, Springer Medizin Verlag, Heidelberg; 2011
[4] S3-Leitlinie unkomplizierte Harnwegsinfektion – Update 2017 [Interdisziplinäre S3 Leitlinie „Epidemiologie, Diagnostik, Therapie, Prävention und Management unkomplizierter, bakterieller, ambulant erworbener Harnwegsinfektionen bei erwachsenen Patienten“, AWMF- Register-Nr. 043/044]
[5] Ana Cristina Abreu, Anabela Borges, Lucia Chaves Simoes, Maria Jose Saavedra and Manuel Simoes, “Antibacterial Activity of Phenyl Isothiocyanate on Escherichia coli and Staphylococcus aureus”, Medicinal Chemistry (2013) 9: 756. https://doi.org/10.2174/1573406411309050016
[6] Kaiser SJ, Mutters NT, Blessing B, Günther F. Natural isothiocyanates express antimicrobial activity against developing and mature biofilms of Pseudomonas aeruginosa. Fitoterapia. 2017 Jun;119:57-63. doi: 10.1016/j.fitote.2017.04.006. Epub 2017 Apr 5. PMID: 28390975.
[7] Mutters NT, Mampel A, Kropidlowski R, Biehler K, Günther F, Bălu I, Malek V, Frank U. Treating urinary tract infections due to MDR E. coli with Isothiocyanates – a phytotherapeutic alternative to antibiotics? Fitoterapia. 2018 Sep;129:237-240. doi: 10.1016/j.fitote.2018.07.012. Epub 2018 Jul 19. PMID: 30031115.
[8] Kwapong, Awo & Stapleton, Paul & Gibbons, Simon. (2019). Inhibiting plasmid mobility: The effect of isothiocyanates on bacterial conjugation. International Journal of Antimicrobial Agents. 53. 10.1016/j.ijantimicag.2019.01.011.
[9] Herz C, Tran HT, Márton MR, Maul R, Baldermann S, Schreiner M, Lamy E. Evaluation of an Aqueous Extract from Horseradish Root (Armoracia rusticana Radix) against Lipopolysaccharide-Induced Cellular Inflammation Reaction. Evid Based Complement Alternat Med. 2017;2017:1950692. doi: 10.1155/2017/1950692. Epub 2017 Jan 15. PMID: 28182113; PMCID: PMC5274677.
[10] “Ehrung für scharfe Wurzel – Meerrettich ist Heilpflanze des Jahres 2021”; Pressemitteilung des NHV Theophrastus e.V., 15. Juni 2020