Mimikry mit Kamillentee
Beinahe namensgleich wurden zwei wissenschaftliche Studien zur Kamille im letzten Quartal des Jahres 2022 veröffentlicht. Auffällig sind nicht nur allein die zufällig ähnlichen Aufgabenstellungen, auch die Systematik in der Aufbereitung lässt aufmerken.
Kaum zu glauben aber wahr. Die Tradition des Abschreibens und Plagiierens in der Wissenschaft hat trotz zahlreicher und wirkungsvoller Check-Tools nicht an Lebendigkeit verloren. Lediglich die Leser müssen weiterhin entscheiden, welche der Arbeiten die bessere und möglicherweise die originellere ist. Das könnte dann durchaus dem Vergleich zwischen Echter Kamille und der Hundskamille ähneln. Tatsächlich widmen sich die zwei fast namensgleichen Studien aus dem letzten Quartal des Jahres 2022 der traditionellen Verwendung von Kamille als Heilpflanze in der Volksmedizin. Erfreulicherweise sind die beiden Autorenteams an unterschiedlichen Plätzen auf dieser Welt zu Hause. Altbekanntes und Bewährtes präsentiert die Forschergruppe aus Portugal, Spanien und Marokko.[1] Ihre Arbeit wirkt ein wenig wie kalter Kamillentee – nicht neu und dennoch wirkungsvoll.
Kamille in der TCM?
Wesentlich aufregender und interessanter erscheint hingegen der Verweis des chinesischen Forscherteams auf die Verwendung der Echten Kamille (Matricaria chamomilla L.) als Heilpflanze in der TCM.[2] Wer würde in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) als Heilmittel die Kamille vermuten? Traditionelle Verbreitungsgebiete der Echten Kamille (Matricaria chamomilla L.) sind bekanntermassen vorrangig die südlichen und mittleren Teile Europas, dem Osten Europas neben Gebieten Nord- und Westasiens. In den Weiten des östlichen Asiens handelt es sich bei den meisten Kamillenarten um Neophyten. Dass fremde Pflanzenarten im Laufe der Zeit einwandern beispielsweise durch Kultivierung ist ein weltweites Phänomen. Allerdings passt das nicht unbedingt zur einer tradierten Verwendungen der Kamille als Heilpflanze in Ostasien! Genau das versuchen die Chinesen aus Shandong dem Rest der Welt glauben zu machen. Ihre Story klingt zunächst recht mutig und aufsehenerregend. Ihr Vehikel ist die im offiziellen China unterdrückte Volksgruppe der Uiguren. Ähnlich wie beim Trojanischen Pferd geht es um das Öffnen verschlossener Türen mit Hinterlist und Tücke. Benachteiligte Menschengruppen eignen sich hervorragend als Vehikel. Das verleiht der Sache mehr Glaubwürdigkeit und Bedeutung. Vor allem dann, wenn – wie vermutet – die ohnehin benachteiligte Minderheit historisch gesehen einen Wissensvorsprung hatte, der ihr von den jetzigen Machthabern streitig gemacht wird.
Erfolgreich seit mehr als 5000 Jahren in Anwendung und Gebrauch:
Echte Kamille (Matricaria chamomilla L.)
Behauptungen ohne Belege!
Nicht besonders geschickt agierte das Autorenteam allerdingsbeim Befund einer langen Tradition von Kamille-Anwendungen in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM). Beim Fabulieren und Konstruieren von Sachverhalten unterliefen ihnen keine Fehler. Sie fälschten einfach die Quellen. Irgendwie passt es ja auch.[3] Perfide wurden Fakten und Fehldeutungen vermischt und zitierte Quellen aus dem Zusammenhang gerissen. Fast schon komisch liest sich die Erwähnung der Gouldet-Studie aus dem Jahre 1973. Gouldet et. al untersuchten anhand von 12 Patienten, ob Kamillentee bei Patienten mit Herzerkrankungen die Hämodynamik beeinflussen könnte. Die Ergebnisse waren erwartungsgemäss nicht aussagekräftig. Den Autoren hingegen war es die Veröffentlichung wert.[4]
Ethnische Minderheiten und TCM
Dass die Kamille in China erstmals in der Uigurischen Medizin ausführlich Erwähnung gefunden habe, ist eine steile These des chinesischen Autorenteams. Als Belege führen sie Zitierungen eines uigurischen medizinischen Werkes aus dem 10. Jahrhundert auf. Es soll sich um das „Zhu Medical Canon“ (《注医典》) handeln, in dem die Kamille als „Bamu Nai“ aufgeführt sei. Die bibliografische Nachweise der wesentlichen Quellen fehlen alle. Sie wurden bewusst unterschlagen und ausgelassen, zudem führen Links ins Leere oder referieren nicht den Kontext. Im Besonderen betrifft das die zitierten Publikationen „Chinesische Kräuter. Uyghur Medicine Volume“ (《中华草本. 维药卷》), „Chinese Ethnic Medicine“ (《中国民族药志》) und das uigurischen Volksmedizinbuch „Baidi Yi Medicine Book“ (《拜地依药书》). Sie wurden im Quellenverzeichnis einfach nicht aufgeführt. Relativ unwahrscheinlich ist, dass die Auslassungen auf Befürchtungen vor Repressionen seitens der chinesischen Behörden basieren, weil in ihrer Arbeit auf die Volksgruppe der Uiguren referiert wird. Wahrscheinlicher ist das bewusste Abzielen auf „Nachsichtigkeit“ in der westlichen Welt bei der Überprüfung ihrer Veröffentlichung.
TCM und Kamille – passt das?
Kamille wird normalerweise nicht als Teil der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) angesehen. Die TCM ist ein sehr umfassendes Medizinsystem, das seine Wurzeln im alten China hat. Verschiedene Praktiken wie Akupunktur, Kräutermedizin, Massage und Ernährungstherapie basieren auf ihr. Faszinierend für den Westen ist, dass die TCM auf den Prinzipien des Gleichgewichts und der Harmonie im Körper aufbaut. In der TCM wird der Mensch ganzheitlich betrachtet zur Diagnose und der Behandlung von Krankheiten.
Kamillearten mit heilender Wirkung sind eher in der traditionellen westlichen Kräutermedizin bekannt und als pflanzliche Heilmittel etabliert. Aufgrund ihrer beruhigenden und verdauungsfördernden Eigenschaften wird beispielsweise die Echte Kamille (Matricaria chamomilla L.) traditionell in der europäischen, nordafrikanischen und der Kräutermedizin des vorderen Orients geschätzt. Die Echte Kamille (Matricaria chamomilla L.) wird oft zur Herstellung von Tees, Aufgüssen und Extrakten verwendet. Sie kann auch unterstützend zur Entspannung, beim Einschlafen und für eine gute Verdauung angewendet werden. Sie ist jedoch keine traditionelle Heilpflanze, die üblicherweise in der TCM verwendet wird, die ihr eigenes einzigartiges System der Kräutermedizin mit unterschiedlichen Prinzipien, Theorien und Praktiken hat. Es ist wichtig zu beachten, dass die Verwendung von Kamille oder anderen Kräutern in der TCM nur unter Anleitung eines qualifizierten TCM-Praktikers erfolgen sollte, um eine sichere und angemessene Verwendung zu gewährleisten.
Quellen:
[1] El Mihyaoui, A., Esteves da Silva, J.C.G., Charfi S., Candela Castillo, M.E., Lamarti, A., Arnao, M.B.; Chamomile (Matricaria chamomilla L.): A Review of Ethnomedicinal Use, Phytochemistry and Pharmacological Uses. Life (Basel). 2022 Mar 25;12(4):479. doi: 10.3390/life12040479. PMID: 35454969; PMCID: PMC9032859.
[2] Dai, Y.‐L.; Li, Y.; Wang, Q.; Niu, F.‐J.; Li, K.‐W.; Wang, Y.‐Y.; Wang, J.; Zhou, C.‐Z.; Gao, L.‐N. Chamomile: A Review of Its Traditional Uses, Chemical Constituents, Pharmacological Activities and Quality Control Studies. Molecules 2023, 28, 133. https://doi.org/10.3390/ molecules28010133
[3] Srivastava, J.K., Shankar, E., & Gupta, S. (2010). Chamomile: A herbal medicine of the past with a bright future (Review). Molecular Medicine Reports, 3, 895-901. https://doi.org/10.3892/mmr.2010.377
[4] Gould, L.; Reddy, C.V.; Gomprecht, R.F. Cardiac effects of chamomile tea. J. Clin. Pharmacol. 1973, 13, 475–479.