Über die rätselhafte Karde
Ist die Wilde Karde ein wirksames Mittel gegen die gefürchtete Borreliose?
Vom äusseren Erscheinungsbild der Wilden Karde (Dipsacus fullonum L.) liesse sich fälschlicherweise auf eine Distelart schliessen. Ihre langen stachelbewehrten Stängel und Blätter und die eiförmigen Blütenstände mit markanten schmalen Hüllblättern vermitteln diese Anmutung. Die Wilde Karde (Dipsacus fullonum L.; Dipsacus sylvestris Huds.) gehört botanisch zur Familie der Geissblattgewächse und zur Unterfamilie der Dipsacodeaen (Kardengewächse). Besonders im Herbst, wenn sie abgeblüht ist und die Pflanze in die Trocknung übergeht, fällt ihre vollendete aufragende Form ins Auge. Ausgesprochen dekorativ wirkt sie im getrockneten Zustand als Ergänzung in Herbststräussen. Ihr kratziges Äusseres verhalf ihr zu den volkstümlichen Bezeichnungen Kratzdistel, Kratzkopf, Hausdistel und sogar Strumpfhosenkratzerli.
Trotz, dass sie mit ihrem Erscheinungsbild so sehr um Aufmerksamkeit heischt, wird sie meist übersehen. Aus dem Gedächtnis der Volksheilkunde schien sie gänzlich verschwunden zu sein. Dabei wurde sie im Altertum für Salben bei Rissen am After und bei Fisteln verwendet. Gewöhnliche und gestielte Warzen sollen unter ihrer Mitwirkung verschwunden sein.[1] Als Mittel gegen Vergiftungen und Hautausschlag beschrieb Hildegard von Bingen die Karde in ihrer ‚Physica‘.[2] In Salerno wurde sie offenbar als ein Mittel gegen Eiterknoten und bei einer Hauterkrankung genutzt, die als Wundrose (erysipela) beschrieben wird.[3]
Auf der Hut vor Zecken sein!
Sobald sich in unseren Breiten sommerliche Temperaturen einstellen, werden die mahnenden Rufe laut: „Nehmt Euch vor den Zecken in Acht!“ Hundebesitzer, Landwirte, Forstarbeiter, Wanderer und Out-Door-Aktive können ein Lied davon singen. Die 1 bis 2 mm kleinen Blutsauger lauern überall, vorwiegend im hohen Gras, in Büschen und im Unterholz. Nackte Haut mögen sie besonders und saugen sich sofort fest. Dabei besteht generell die Gefahr, dass sie die Erreger der gefürchteten Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) und der Lyme-Borreliose auf den Menschen übertragen. Beide Erkrankungen sind schwierig zu behandeln und die gesundheitlichen Beeinträchtigungen wiegen schwer. Im Falle der Frühsommer-Meningoenzephalitis handelt es sich um eine durch das FSME-Virus ausgelöste Erkrankung, bei der es zu einer Entzündung der Hirnhaut, des Gehirns und/oder des Rückenmarks kommen kann. Die Lyme-Borreliose ist eine durch den Bakterienstamm Borrelia burgdorferi ausgelöste multisystemische Erkrankung mit unterschiedlichen Symptomen, die in der Regel von Fieber, lokalen Hautveränderungen und Gelenkschmerzen begleitet sind. Neurologische Ausfälle, Erkrankungen des Herzens und anderer Muskeln beschreiben einen schweren Krankheitsverlauf. Generell werden zur Therapie von Lyme-Borreliose-Erkrankungen Antibiotika eingesetzt, weil es sich um eine bakterielle Infektion handelt.[4]
Karden sind keine Disteln. Sie gehören zu den Geissblattgewächsen.
Alternativen zum konservativen Therapieschema?
Prinzipiell ergeben sich aus jeder Behandlung mit Antibiotika zwei Herausforderungen für Behandler und die Patienten. Zu einem wirken Antibiotika immer nur gegen Bakteriengruppen und sehr selten spezifisch gegen ein Bakterium. Daher werden meist bei einer antibiotischen Therapie auch andere zum Teil nützliche Bakterien in Mitleidenschaft gezogen, was für das Wohlbefinden der Patienten häufig Beeinträchtigungen nach sich ziehen kann. Zum anderen kommt es vor, dass eine antibiotische Therapie nicht effektiv genug sämtliche Krankheitserreger eliminiert. Im Falle einer Lyme-Borreliose kann das zum Persistieren oder Wiederaufflammen der Erkrankung führen. Ein sogenanntes Post-Lyme-Syndrom äussert sich dann durch chronische, anhaltende Müdigkeit, Schmerzen des Bewegungsapparats und neurokognitive Probleme auch nach über sechs Monaten im Anschluss an eine Primärbehandlung. Hier setzt auch die Kritik der Gegner von Antibiotika-Therapien an. Sie vertreten die Meinung, dass mit pflanzlichen Heilmitteln die Borreliose effektiver und verträglicher behandelt werden kann. Als Phytotherapeutikum schlagen sie die Wilde Karde (Dipsacus fullonum L.) vor.[5]
Die Wilde Karde – ein pflanzliches Therapeutikum?
Neu scheint die Idee, Wilde Karde (Dipsacus fullonum L.) als pflanzliches Heilmittel gegen Borreliose zu verwenden, nicht zu sein. So berichtet die erste grosse Drogenkunde des Abendlandes: „Die gestossene Karde hilft … , im Anfang der Krankheit, etwa bei einer Wundrose (erysipela) und dergleichen.“[6] Ein typisches Erstsymptom für eine Borreliose-Infektion ist die ringförmige Hautrötung an der Einstichstelle (Erythema migrans oder Wanderröte) nach einem Zeckenbiss. Eine weitere Parallele ergibt sich aus der sogenannten „Signaturlehre“, wonach Pflanzen in ihrem äusseren Erscheinungsbild ihre Heilfähigkeiten andeuten. Hierbei wird die wandernde kreisförmige Rötung auf der Haut mit dem nach oben und unten ringförmig wandernden Blütenstand der Karde in Verbindung gebracht und als Hinweis für die potenzielle Heilwirkung verstanden.[7] Allerdings bleibt anzumerken, dass die Entdeckung des Erregers (Borrelia burgdorferi) sowie die Klärung des Krankheitsbildes und seiner Zusammenhänge erst in den 80-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gelangen. Daher ist es naheliegend, dass in der Vergangenheit wenn überhaupt lediglich die typischen Symptome mit der Wilden Karde behandelt wurden.
Die aufsteigenden Blüten der Karde wurden in der Signaturlehre mit der Wandelröte in Verbindung gebracht.
Auf der Suche nach dem Wirkstoffprofil
Zwei neue Studien scheinen die richtungsweisenden Antworten auf die Frage zur Eignung der Wilden Karde (Dipsacus fullonum L.) als Phytotherapeutikum bei Lyme-Borreliose gefunden zu haben. Bisher konzentrierte sich die Anti-Borrelien-Forschung lediglich auf die Wurzeln der Wilden Karde. Diese weisen allerdings nur eine geringe Aktivität gegen die Borreliose-Erreger auf. Wissenschaftler der Wrocław University of Environmental and LifeSciences untersuchten das spezifische bioaktive Profil der Blätter und Wurzeln der Wilden Karde (Dipsacus fullonum L.). Ihnen fiel auf, dass sich die Zusammensetzung der Inhaltsstoffe in den Blättern deutlich von denen der Wurzeln unterscheidet, und dass sie beachtliche antioxidative und antimikrobielle Eigenschaften aufweisen. Sie identifizierten in den Blättern die Iridoide Cantleyosid, Sylvestrosid III und IV.[8] Des Rätsels Lösung scheint in den Blättern der Wilden Karde zu stecken!
Die Blätter sind es, nicht die Wurzeln!
Den Forschungsergebnissen einer Forschergruppe aus Estland zufolge zeigte im Laborversuch (in-vitro) ein ethanolischer Extrakt aus den Blättern von Dipsacus fullonum L. (Wilde Karde) eine erstaunlich gute Wirkung gegen den Borreliose-Erreger Borrelia burgdorferi. Der Haken an der Sache ist, gleichzeitig wurde eine durch das Extrakt ausgelöste Zytotoxizität (Zellschädigung) auf das untersuchte Zellmaterial beobachtet.[9] Daher kann ausgeschlossen werden, dass die natürliche Formulierung der Inhaltsstoffe in den Blättern der Wilden Karde eine alternative Therapieoption bei Lyme-Borreliose darstellt!
Was bei anderen heilenden Pflanzen einen unnachahmlichen Vorteil darstellt, ist bei der Wilden Karde offensichtlich das grösste Hindernis für ihre Verwendung: die natürliche Kombination ihrer Inhaltsstoffe. Zwar wies der untersuchte alkoholische Extrakt aus den Karden-Blättern eine beachtenswerte Anti-Borrelia-Aktivität auf, aber die Zytotoxizität des Rohextrakts zwang die Forscher wirksame von zytotoxischen (zellgiftigen) Inhaltsstoffen zu isolieren. Die höchste Zytotoxizität zeigten die Polyphenole wie Saponarin, Isoorientin und Isovitexin. Hingegen stellen wohl die Iridoide wie Loganin, Logansäure und besonders die Sylvestroside III und IV die relevant wirksamen Inhaltsstoffe dar. Erst nach Fraktionierung und Reinigung der chemischen Verbindungen zeigten in den Tests die bioaktiven Sylvestroside ihre potenzielle Wirksamkeit gegen Bakterien aus der Gruppe der Borrelia burgdorferi. Damit ist im Labor der Nachweis einer Wirksamkeit gegen Borreliose mit Blättern der Karde erbracht worden. Zugleich zeigen die Untersuchungsergebnisse auf, dass die zu erwartenden Nebenwirkungen nicht den Nutzen von Anwendungen aufwiegen werden. Daher ist von Anwendungen mit Extrakten der Wilden Karde bei Borreliose-Erkrankungen abzuraten.
Wunderschön und dennoch verkannt: die Wilde Karde
Das grosse Spiel der Zahlen
Für die pharmazeutische Industrie könnten die bioaktiven Sylvestroside durchaus interessant sein. Inwiefern sie sich das Wissen der polnischen und estnischen Wissenschaftler zunutze machen, bleibt fraglich. Alle bekannten Studien entstammen Laborversuchen und sind über das in-vitro-Niveau noch nicht hinausgekommen. Für eine Marktzulassung braucht es umfassende klinische Studien. Zur Durchführbarkeit dieser lässt sich nur spekulieren, wenn mit den vorhandenen Antibiotika sich Borreliose-Erkrankungen erfolgreich behandeln lassen. Über das Marktpotenzial entscheidet letztendlich die pharmazeutische Industrie. Immerhin gehen Statistiken von jährlich rund 80.000 neuerkrankten Borreliose-Fällen aus.[10]
Quellen:
[1] Dioskurides, Pedanios, De materia medica, Übersetzung: Julius Berendes (1902), Bearbeitung: Alexander Vögtli (1998), pharmawiki.ch
[2] Hildegard von Bingen; Heilsame Schöpfung – Die natürliche Wirkkraft der Dinge ‚Physica‘; übersetzt von Ortrun Riha, Beuroner Kunstverlag; 2012
[3] Goehl, Konrad: Das Circa Instans, Deutscher Wissenschafts-Verlag (DWV), Baden-Baden, 2015.
[4] https://www.pschyrembel.de/Lyme-Borreliose%20/K0DEB/doc/; 23.09.2022
[5] Storl W.-D.. Borreliose natürlich heilen: Ethnomedizinisches Wissen, ganzheitliche Behandlung und praktische Anwendungen. 16. Auflage, AT-Verlag, München 2020
[6] Goehl, Konrad: Das Circa Instans, Deutscher Wissenschafts-Verlag (DWV), Baden-Baden, 2015.
[7] https://www.phytodoc.de/heilpflanzen/wilde-karde-hilft-sie-wirklich-bei-borreliose; 26.09.2022
[8] Oszmiański, J.; Wojdyło, A.; Juszczyk, P.; Nowicka, P. Roots and Leaf Extracts of Dipsacus fullonum L. and Their Biological Activities. Plants 2020, 9, 78. https://doi.org/10.3390/plants9010078
[9] Saar-Reismaa, P.; Bragina, O.; Kuhtinskaja, M.; Reile, I.; Laanet, P.-R.; Kulp, M.; Vaher, M. Extraction and Fractionation of Bioactives from Dipsacus fullonum L. Leaves and Evaluation of Their Anti-Borrelia Activity. Pharmaceuticals 2022, 15, 87. https://doi.org/10.3390/ph15010087
[10] https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Borreliose/Borreliose.html; 22.09.2022